Sonntag, 27. September 2015

Paris I

Sie stand vor der Skulptur. Sarah Altmejd. Die Schwester des Künstlers von der er selbst auf dem Audioguide zur Ausstellung sagte, sie sei der Mensch, den er am meisten auf der Welt liebt. Sie hatte rötliches, langes, glattes Haar. Auf Ohrhöhe eine goldene Creole mit einem Stern in der Mitte, auf gleicher Höhe der anderen Seite eine türkisfarbene Perle. Es gab kein Ohr. Das einzig Intakte eines menschlichen Gesichts war ihr Haar. Das Haar und die Ohrringe die - auch ohne den Titel zu kennen - sofort wissen ließen, dass es sich um eine Frau handelte. Denn auch ihr Gesicht gab es nicht. Es bestand aus einem dunklen Loch, innen aus schwarzem moosartig aussehenden und doch gehärtetem Material. Zum Rand des Lochs, zu den Haaren hin wurde es grünlich, gemischt mit rötlicher Fleischfarbe, darunter wie Baumrinde wirkend. Nur der Hals der Skulptur, des Lochs unter der Perücke wirkte wie echte Haut, doch auch diese war uneben, kraterig. Der Haupteindruck der Skulptur - ein großes Loch aus Moos. Sie fand es friedlich dieses Moos im Kopf. Sie verspürt Freude und Ruhe beim Anblick dieser Skulptur. Sie hätte gerne einen Bruder wie David Altmejd gehabt, der auch ihr so ein unglaublich schönes Geständnis in Form seiner Arbeit anfertigen würde. Ein Geständnis das nur sie beide verstehen würden. Ein tiefes, dunkles Loch aus Moos in ihrem Kopf. Dem weichen, nach feuchtem Wald riechenden  Moos, das sie auf den Boden der Krippe unter den Weihnachtsbaum gelegt hatten, damals.


Die Krippe stand nur zweimal in ihrer Kindheit unter dem Weihnachtsbaum. Sie war eine Leihgabe der Tante, zwar ein Erbstück, doch die Tante hatte sie vom Großvater geerbt und sie wusste nicht, warum sie diesmal die Krippe unter ihrem Weihnachtsbaum aufbauen durften, war die Tante doch sonst nicht die Frau, die gerne Dinge verlieh, schon gar nicht an die Verwandschaft die sie vom Erbe abgeschnitten hatte. Dieses Jahr hatten sie es geschafft die Krippe zu bekommen und nun stand sie unter dem geschmückten Baum. Maria in ihrem blauen Kleid, einem hauchdünnen Kopftuch, Josef etwas hilflos daneben, das Jesuskindlein nackt, viel zu dünn und zu definiert, als dass es ein Neugeborenes hätte sein können. Doch wer wollte schon ein rotes, verschrumpeltes Baby mit Schorf auf dem Kopf als den Erlöser unter dem Weihnachtsbaum sehen. Sie liebte diese Krippe mit Esel, Ochs und den Hirten die immer mal umgestellt wurden und am 6. Januar kamen die heiligen drei Könige dazu. Zu Ihrer Ankunft wurden Sie mit den herabfallenden Nadeln des im Wohnzimmer langsam austrocknenden Baumes begrüßt. Sie liebte es diese Krippe anzusehen und darüber nachzudenken, welch ein Frieden wohl damals in diesen Nächten im Stall geherrscht hatte. Vielleicht.

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