Dienstag, 29. September 2015

Paris IV

Anna war froh, mit ihm als etwas wortkarge Familienvertretung nicht lange smalltalk halten zu müssen. So fiel ihr sofortiger Abzug nach draußen nicht auf. Sie hatte  eine Konzertkarte reserviert, auf der anderen Seite der Seine. Das Wetter war gut und sie zog los, durchquerte die Stadt, erst bergab vom Montmartre, dann weiter durch das neunte und zweite Arrondissement, immer schicker werdend. An einer Kirche haltend, St. Eustache. Im Innern der Kirche lag ein Mann auf dem steinernen Fußboden und wurde von drei Sanitätern versorgt. Sie bemühte sich nicht, wie viele andere Menschen, mit Kameras in der Hand über den Mann hinweg zu fotografieren und dabei zu beobachten, was die Sanitäter machten. Nein, sie verließt die Kirche und spazierte weiter über die Seine, Notre Dame erkennend, auf mehr und mehr Touristen treffend. Sie lief weiter und weiter bis sie kurz unterhalb des Pantheon die unglaublich kleine Kirche erreichte, in der das Konzert stattfinden sollte. Diese gemütliche Kirche mit ihrem moscheehaften Inneren war schon halb mit Menschen gefüllt. Sie ergatterte einen diskreten Platz an der Seite mit guter Sicht auf die kaum erhöhte Bühne und dachte an den großen Vorteil des Konzertbesuchs ganz alleine. Sie genoss die auf Cello, Piano und Geige gespielten Stücke von Schubert und Mendelssohn im Kerzenschein des kleinen Dunkels. Und obwohl sie sehr müde war und die Augen zwischendurch schloss um die Musik einzusaugen, musste sie nicht schnarchen wie der Herr in den hinteren Reihen, der eine ganz ordentliche Begleitung der Künstler von sich gab. Anfangs schien sein sonores Geräusch im Takt, doch irgendwann wanderte sein natürliches Metronom darüber hinaus. Die Dame vor ihr drehte sich zu ihr um und sie lächelten sich an. Es störte sie kaum, es belustigte sie eher und sie wunderte sich, warum niemand den Herrn aufweckte. Lediglich einmal war ein lautes „Pssst“ zu hören, welches den Schnarcher nicht in seiner friedlichen Seligkeit störte. Erst mit dem Applaus am Ende der ersten beiden Stücke wurde er unsanft aus seinem Schlaf gerissen und konnte nun bei Mendelssohn nicht mehr zurück finden in seinen begleitenden Ton.

Den Rückweg trat sie über das erste Arrondissement an. Sie hatte endlich nach einigen Versuchen ein Velib geknackt und nun fuhr sie die Einbahnstraßen mit dem Fahrrad gegen die Fahrtrichtung, strampelte hinaus bis zur Wohnung am Montmartre, wollte noch nicht hinein gehen, lief hoch zu SacreCoeur. Erst an vielleicht bewusst schäbig wirkenden Kneipen vorbei. dann Treppen hoch und hoch und hoch, um am Platz oben die Weihnachtsbeleuchtung nicht schön zu finden und doch SacreCoeur von hinten umlaufend, einen wunderbaren Blick über Paris zu haben. Obwohl es schon dunkel war ging sie, vorbei an den schwarzen Glitzer-TourEiffel-Verkäufern und grölenden, singenden Gruppen, die Stufen weiter hoch. Den Blick genießend, doch mit zu wenig Ruhe, zu viel Lärm. Zu vielen Touristen, obwohl es schon sehr lange dunkel war. Da es Ruhe hier noch  lange nicht gab, lief sie die Stufen entlang der Bahn die dort hinauf führt wieder hinunter und betrat nun die Wohnung ihrer neuen Familie, in der ihr neuer japanischer Mitbewohner sie stotternd in Empfang nahm. Erst dachte sie, es sei nur sein fehlendes Französisch. Doch er stotterte tatsächlich und obwohl sie ihm ihren Namen und ihre Nationalität sowohl auf Französisch als auch auf englisch aufschrieb, fragte er noch zweimal nach. Wenn sie es richtig aus seinem fehlendem, stotterndem Französisch deuten konnte, sie ihm auch ihr Alter mehrmals genannt und aufgeschrieben hatte, wollte er nun mit ihr zum Dinner, nachdem er ein paar mal sagte „wait, wait“ weil sie in ihrem Zimmer verschwinden wollte. Doch immerhin: Sie hatte es geschafft „nein“ zu sagen, was sie als junges Mädchen sicher nicht hinbekommen hätte. Sie hätte sich anschließend geärgert, einen stotternden Japaner gegenüber zu sitzen, ihr Gewissen nicht damit beruhigen könnend, dass der arme Kerl sonst verhungert wäre. Diesmal hatte sie es geschafft. Sie konnte den Japaner hungern lassen. Sie war fast ein bisschen stolz auf sich. 

Und dann, endlich, traf sie ihre mère de famille, her landlady, die Vermieterin. Catherine war warmherzig, erzählte sofort von Tochter und Enkeltochter die gerade 4 Jahre alt war und dass sie schon seit 30 Jahren hier oben wohnte. Die Wohnung war genauso wie Anna sich eine 30 Jahre alte, nie ausgeräumte Wohnung vorgestellt hatte. In einem Haus, gebaut um die  vorletzte Jahrhundertwende. Die Küche in französischer Sauberkeit. Mit einem kleinen Tischchen das umrahmt war von zwei Gartenstühlen und auf dem Gewürze, Medikamente und alles was in den Schränken keine Platz gefunden hatte gestapelt war. Ihr mitgebrachter Luxus, ihr Kirschkernkissen für ihre kalten Füße am Abend, musste vorher in eine Plastiktüte verpackt werden, da die Mikrowelle im Inneren so unglaublich mit fleischigen Spritzern übersäht war, dass Catherine selbst es nicht wagte das Kissen nackt dort hinein zu legen. Besonders sympathisch an der Frau war, dass sie von dem Dreck wusste, ihn erwähnte, aber keinerlei Anstalten machte zu sagen, dass irgendwann geputzt werden würde. Das wäre das erste gewesen, was die gute alte oder auch junge deutsche Hausfrau permanent gesagt hätte „Ich werde aufräumen, ich werde sauber machen“ oder „die Putzfrau kommt morgen“. Das relaxte Leben in einigen Gramm zu viel Dreck um einen herum, ganz ohne schlechtes Gewissen, dessen war Catherine sich bewusst, dessen schämte sie sich nicht und daher gab es auch keinen Druck ihn zu entfernen. Schon jetzt fühlte Anna sich hier unglaublich wohl.


Der zweite, ebenfalls entspannte Mitbwohner Pedro aus Miami, hatte bei der Army gedient und wollte zum Studium nach Frankreich kommen. Mit ihm sprach Anna Englisch bzw. einen Mix aus Französisch mit Catherine und ihm auf Englisch, der arme verhungerte Japaner fast außerhalb der Plauderrunde stehend, doch keinen Millimeter weichend. Ein Anblick ein bisschen wie „Häschen aus der Grube“.  Pedro auf jeden Fall würde sie morgens im Bus mitnehmen, das wäre schöner als Metro, die sie später im Bett liegend meinte zu spüren, denn sie musste direkt unter dem Haus hindurch führen.

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