Anna war angekommen in der Wohnung der Frau bei der sie ein Zimmer gemietet hatte. Sie wollte kein Hotel, denn sie wollte hier nicht Tourist sein. Als Tourist war sie schon da gewesen. Tourist sein war für Sie einsam sein, gelenkt vom Abhaken einzelner Attraktionen und davon, möglichst viele an einem Tag, in einer Nacht, um dann zu Hause sagen zu können „ich war im Louvre, im Musée D’Orsay, am Pompidou, auf dem Eiffeltrum und natürlich bin ich mit einem bateau mouche gefahren. Natürlich. Und ja, es ist eine Reise Wert, dieses Paris.“
Nein, das wollte Anna nicht mehr. Sie wollte das Leben hier sehen, die Menschen, die sich tagein tagaus in die Metro zur Arbeit zwängen, vorher vielleicht durch den Park gejoggt waren oder die Kinder zur Schule gebracht hatten und die abends ins Bett fielen ohne Theater, Konzert oder Filmkunstkino besucht zu haben. Sie wollte die Menschen spüren die hier lebten, so wie sie auch in ihrer Stadt lebte. Sie wollte sich an Menschen, an Erlebnisse erinnern, nicht an Bilder von denen sie später nicht mehr wissen würde ob sie wirklich ihre eigenen waren oder die einer weltweit gut funktionierenden touristischen Marketingmaschine der Selbstdarstellung.
Aus diesem Gefühl heraus hatte sie sich nicht nur ein preiswertes Zimmer gemietet, nein sie hatte sich sogar eine Familie gemietet, hatte eine Kleinsteinheit Sprachkurs in einer kleinen privaten Sprachschule gebucht, hauptsächlich um dabei gelebtes Paris kennen zu lernen, denn die Sprache war ihr vertraut, wenn auch vergraut in ihrem Hirn. Mit diesem Sprachkurs hatte sie also eine Familie bekommen. Die Familie in der sie jetzt wohnte: Eine Frau Ende Sechzig, gleichzeitig die Sekretärin, das Herz der Schule wie sie später erfahren sollte. Hier wohnten zwei weitere Gastkinder. Kinder im Sinne von Nichtkönnen, vom Nichtbeherrschen dieser Sprache deren Klang sie sosehr vermisst hatte. Viele Jahre lang. Kinder im Sinne von hilflos sein in einer ungewohnten Umgebung, denn keiner von Ihnen war wirklich ein Kind.
Sie war gelandet. Charles de Gaulle. In die RER die Einfahrt an hässlichen Hochhäusern vorbei aufsaugend, danach einen halben Kilometer im Untergrund der Metro laufend, mit rollendem Koffer, fand sie gegen ihre Gewohnheit sofort die Wohnung ihrer Gastfamilie. Im touristischen Mekka, schräg über „La Cigale“ am Fuße des Montmartre dem vollen Sounvenir-Trubel. Im Eingang des Gebäudes den mit wunderschönen, alten, haussmannschen Türen, dem alten, winzigen Aufzug der einem fahrenden Mini-Käfig glich und den bunten Fenstern die die beteppichten roten Stufen nach oben säumten, verflog sofort ihre Skepsis mit der „Familie“ die richtige Wahl getroffen zu haben.
Als ein älterer Herr die Tür öffnete und nicht die erwartete Gastmutter war sie immer noch ohne Zweifel. Er war ein Freund der Dame, die wohl zum Flughafen hatte fahren müssen, noch unselbständigere Gäste wie sie es war abzuholen. Er zeigte ihr die Wohnung mit ihren Stuckdecken, knarrendem Dielenboden und ihr wunderschönes kleines, romantisch eingerichtetes Mächen-Zimmer mit Kaminsims vor dem das weiße verschnörkelte Bett stand. Als sie mit dem Gastmutterfreund vor dem geöffneten Fenster zur Hauptstraße hinunter nach den Leih-Fahrrädern sah, entfernte ihr dieser vorsichtig einen Fussel von der Schulter. Erst im Nachhinein wurde ihr klar, wie fürsorglich diese Geste war. In dem Moment, als er den Fussel mit den Fingern ganz vorsichtig nahm, zögerte er noch einmal. Er war wohl zu dem Schluss gekommen, dass er es wagen könne, dieses väterliche Fussel entsorgen. Er konnte.
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