Samstag, 3. Oktober 2015

Paris VI

Je länger sie nun da war, um so mehr spürte sie die Stadt, das Tempo, den Lärm und vor allem die Menschen. Die Gebäude einer Stadt können noch so schön sein, sie sind nichts, wenn die Menschen dort ihr nicht Inhalt geben. So fragte sie sich, warum ihr hier alles so schön erschien. Die Wohnung in der sie wohnte, vollgestopft mit Büchern und Dingen aus fremden Leben. Mit bröselndem Stuck an der Decke, knarrendem Boden, einer Küche deren gelb-schwarz karierter Linoleum schon seit Monaten nicht geputzt worden war und einem Gasherd wie sie ihn aus Studentenzeiten her kannte. Kochen war möglich, wenn nichts klein geschnitten werden musste und statt dem Abfalleimer gab es einfach irgendwo in der Küche eine Tüte, die dort lag wo sie Platz fand. Eine Tüte für alle Arten von Müll. Sie vermisste nicht den dreigeteilten Abfalleimer den sie zu Hause hatten, neben dem dort zur exakten Trennung noch ein Korb für das Papier und eine Tasche für das Glas stand. Auch beim Duschen ohne Vorhang, in der Wanne sitzend, damit nicht das ganze Badezimmer zum See wurde, fühlte sie sich endlich wieder in Frankreich. Es war also nicht sie, die nur ein anderes Gefühl hier hatte, nein es war anders. Natürlich.

Natürlich waren das nur ihre Wahrnehmungen. Sie saß in der Kirche von Saint Germain der Près lange still, genoss die Ruhe. Ein Pärchen schlenderte vorbei, die Dame verlor ihren Schal, unbemerkt. Anna nahm ihn vom Boden und reichte ihn der Dame, ihr erst kurz nachlaufend. Diese freute sich, bedankte sich warmherzig. Etwas später an der Kasse eines Kaufhauses zahlte Anna mit Kreditkarte. Die Kassiererin vergaß die Unterschrift einzufordern und schien ebenso dankbar, als Anna die Angestellte in ihrem unperfekten Französisch fragte, ob sie keine „Signature“ von ihr benötigen würde.

Am nächsten Tag hatte Catherine Geburtstag. Anna suchte nicht nach einem Geschenk, doch als sie an den vielen, schon geschlossenen Läden auf dem nach Hause Weg auch an einem Blumenladen vorbei lief, dachte sie daran Blumen zu kaufen. Die Verkäuferin war gerade dabei, die Blumen nach drinnen zu tragen um den Laden zu schließen. Als Anna fragte, ob sie schon geschlossen hätte, erstaunte die Antwort „non non Madame, je suis la pour vous, Madame“. Auch diese Dame war weder genervt, noch unruhig als sie zweimal ihren Wunsch änderte, um final bei ihren geliebten Ranunkeln anzukommen und am Ende sogar noch ein paar Kamillenblüten dazwischen haben wollte, erst dann, als der Strauß schon fast fertig war. In einer ziemlich ähnlichen Situation zu Hause, und damals war sie sogar 10 Minuten vor Ladenschluss eingetroffen, hatte sie lediglich ein „ich bin schließlich schon seit 9 Uhr da, aber gut, was wollen sie denn jetzt noch?“. geerntet. 

In dem kleinen Bistro das sie danach betrat begrüßte sie der Kellner freundlich und als sie ihn fragte welches Fischgericht er empfahl, bekam sie eine unglaublich detaillierte und freundliche Auskunft und einen Wein dazu empfohlen der sie geborgen fühlen ließ. Sie genoss es, den Gruppen und Paaren um sich herum zuzuhören bei ihren Gesprächen, nicht um zu erfahren was sie so tun, sondern einfach um die Sprache zu hören. Und auf dem Weg zur Wohnung, ein bisschen angeschickert vom im Fisch badenden Weißwein bemerke sie bereits, dass sie wieder französisch dachte, obwohl ihr nach wie vor unglaublich viele Wörter fehlten die sie einmal beherrscht hatte. Doch sie kamen wieder an die Oberfläche. Waren sie einmal mit dem Sprach-Defibrilator reanimiert, tauchen sie nicht wieder gänzlich ab, blieben dem Oben näher als dem Unten und verloren sich nicht wieder so weit in der Tiefe ihres Hirnmeeres.

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