Auf dem Fahrrad fuhr sie durch die Stadt. Bereits die Frage, ob ein Rad verfügbar war an der Station für die „Velibs“ vor dem Haus, war ein Abenteuer ohne Spannungsbogen. Wenn nicht, konnte sie den Bus nehmen. Wenn nicht den Bus weil der nächste zu spät kommen würde, konnte sie laufen. Oder sie konnte als für sie finale Option die Metro nehmen. Sich in den Untergrund der Stadt schmeißen um sich an anderer Stelle wieder ausspucken zu lassen. Ohnehin die Option, die am praktischsten, am schnellsten gewesen wäre. Doch in den Untergrund ging sie im Moment nicht gerne. Darin umherirrend. Beim Umsteigen sehr lange Wege treppauf, treppab gehend, immer eine mit ihr fließende Masse an Menschen um sich herum, nicht anhalten könnend und nicht wirklich wissend, was oben grade passiert. So war dieser Untergrund der Stadt selten die Wahl die sie traf. Meist traf sie die Entscheidung zu laufen, für die Entfernung zur Schule gut machbar, bei anderen Strecken nicht mehr. Doch sie hatte das Gefühl der Wahl und das war besser als die Wahl selbst.
Sie war alleine mit sich, mit ihrer Entscheidung darüber in welcher Masse sie schwimmen wollte. Und da ihr die Masse meistens viel zu schnell schwamm und sie nicht gerne am Ende hinten ausgespuckt wurde ohne gesehen zu haben welche Straßen, Häuser und Menschen sie auf ihrem Weg passiert hatte, nahm sie möglichst selten die Metro. Sie fuhr so oft es möglich war mit dem Rad, vor dem sie hier oft gewarnt wurde. Es sei viel zu gefährlich, das Fahren auf der Busspur und auf Fahrradwegen die es zwar gab, doch oftmals waren sie wegen parkender Lastwägen, eingerichteter Baustellen oder bedröppelt herum stehender, fotografierender Touristen unpassierbar. Und hatte sie dann endlich freie Fahrt, kam die nächste Abzweigung und sie stand vor einer unpassierbaren Einbahnstraße in die sie gemusst hätte um ans Ziel zu kommen. So war es ein großer Vorteil, dass sie ziellos umher radeln konnte, ohne gegen die Einbahnstraße zu fahren wie sie es aus ihrer Heimatstadt gewohnt war. Es wäre nicht gut für die Gesundheit gewesen, auf einer dreispurigen Einbahnstraße gegen die Richtung zu fahren.
Und doch, bereits nach ein paar Tagen kannte sie so manchen ihrer Wege und da die Entfernungen weiter waren als zu Hause, begann es endlich: Das hirnlose Fahren, das Anna so liebte. Das vor sich hin fahren weil der Weg bekannt war, dabei zwar alles wahr nehmend aber nichts sehend. Die frische Abgasluft einatmend, die sich stauenden Autofahrer neben sich an der Ampel bewundernd, genau wissend, dass die meisten von Ihnen in ihrer kleinen und großen Kapsel der Fortbewegung dachten „die arme Radlerin“. Sich darüber freuend, denn sie dachte „die armen Autofahrer“. So waren sich alle einig: Sie bemitleideten sich gegenseitig für etwas, das sie selbst gar nicht bemitleidenswert fanden. Denn wenn sie ab und zu die Rollen tauschten, sie also mit dem Auto fuhr, weil es zu arg regnete oder sie einen Kuchen mit ins Büro nehmen wollte. Oder ihr Mann sie mit dem Fahrrad zum Restaurant begleitete um keinen Parkplatz suchen zu müssen. Dann war dieses ungewohnte meist eine Bestätigung für sich selbst. Sie ärgerte sich jedes mal über die Parkplatzsuche am Büro, ihr Mann ärgerte sich darüber, dass sein Fahrrad nicht genug Luft im Reifen hatte und dass alles viel länger dauern würde als mit dem Auto. Und leider, ja leider bestätigte es beide Seiten, wieder nur zum Gewohnten zurück zu kehren. Und sie konnten wieder einmal beide sagen, sie kennen das andere und das wäre der Grund warum sie es nicht tun würden: Fahrradfahren oder Autofahren.
Waren sie jedoch gezwungen, das andere mehrmals auszuprobieren, dann bestand durchaus die unerhörte Gefahr, sich daran zu gewöhnen. Die Seite zu wechseln. Zu dem, was sie vorher bemitleidenswert fanden. Und ohne es wirklich gewollt zu haben, war man ein wenig ein anderer Mensch geworden, konnte und wollte nicht mehr zurück.
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