Montag, 5. Oktober 2015

Paris VIII

Anna’s zweier Mitbewohner war Pedro aus Miami. „Well, you know“, das kam so ungefähr nach jedem zweiten Satz aus ihm raus. Und als Anna eine andere, etwas ältere Amerikanerin in ihrem Kurs, die  wahnsinnig klares, deutliches Englisch sprach, fragte, woran das läge, dass Pedro so viele „Youknows““ einstreute, antwortete diese, das wäre wohl sein Alter. Ihre eigenen, bereits erwachsenen Kinder könne sie auch oftmals nicht verstehen. Pedro also nahm sie am ersten Tag morgens im Bus mit zur Schule. Sie freute sich, denn der Bus fuhr zur Schule eine große Runde über das 9te ins 2te Arrondissement. Die vielen Einbahnstraßen ließen den Bus ihn hin- und herbiegen. Und während Anna einige Youknows mit Pedro austauschte freute sie sich noch mehr darüber, nicht in den Untergrund gemusst zu haben, sondern die vielen schönen Häuser und Straßen bewundernd, um 8 Uhr morgens gemütlich sitzend durch die Stadt kutschiert zu werden. Im halbdunkel sogar, denn es war Winter. Pedro war immer sehr früh dran. Er hatte ihr am Vorabend mitgeteilt, er wolle um 8 Uhr los, denn manchmal sei der Bus schon weg und dann käme eine Viertel Stunde keiner mehr. Daher hätte sie nicht so überrascht sein müssen, als sie sich um 7:40 Uhr  an den großen Tisch im Esszimmer für ihr französisches Frühstück mit pappigen Brioches und einem Yoghurt setzen wollte, und Pedro dort schon in Anorak, Mütze und Straßenschuhen saß. Fix und fertig zum Abmarsch. doch sie nicht drängend als sie ihn fragte, ob ihre Uhr falsch ginge. Nein, ihm wäre nur kalt hatte er erwidert. Anna beschleunigte  dennoch ihr Frühstück, in dem sie nur einen Apfel aus dem Obstkorb nahm, etwas hektisch die Zähne putzte um seinem angeblich-nicht-Warten auf sie ein Ende zu bereiten. 

Als sie Abends nach Hause kam erzählte ihr Catherin wieder an der Bügelbrett-Theke der Wohnung, dass Pedro oftmals um 20 Uhr zu Bett ginge. Er schien tatsächlich zu schlafen. Es wäre kein Licht in seinem Zimmer und die Läden wären geschlossen. Sie sagte, er würde am Wochenende gerne einen Mittagsschlaf machen. Und morgens in der Schule würde er oftmals schon vor der Lehrerin da sein und alleine im dunklen Klassenraum sitzen auf sie wartend, nichts tun außer zu sitzen und zu warten. Überhaupt, manchmal hätte sie das Gefühl er würde 10 Stunden Schlaf oder einfach nur Dunkelheit benötigen, sich aber nie beschweren, wenn Takashi seine Waschungen im Badezimmer nebenan nach 22 Uhr abhielt. Der laufende Wasserhahn wäre schon sehr laut in Pedro’s Zimmer zu hören und sie hätte dann oftmals ein schlechtes Gewissen wenn Takashi nicht stoppen könne. Und dennoch, alle in der Wohnung waren froh, wenn Takashi um diese Uhrzeit ins Bad ging, denn so blockierte er niemanden.

Catherine nahm schon seit Jahren Sprach-Studenten in ihrer Wohnung auf. Als ihre Tochter vor vielen Jahren sehr schwer krank wurde, musste sie aufhören zu arbeiten, musste sich um die Tochter kümmern. Ausschließlich. Mit der Tochter im großen Wohnzimmer schlafen, damit sie gemeinsam sein konnten. Ein Freund hatte sie auf die Idee gebracht, Studenten aufzunehmen in der großen Wohnung. Sie wären dann nicht so alleine und die drei Schlafzimmer nicht ungenutzt und vor allem käme ein bisschen Geld rein. Sie versuchte es und war begeistert von den vielen tollen Menschen aus der ganzen Welt die sie kennenlernen durfte ohne selbst zu reisen. Auch ganze Familien hätten schon bei ihr gewohnt. Aus allen Kulturen, in jedem Alter. Sie fing an diese Aufenthalte für die Sprachschule zu koordinieren was sie nun schon seit über 10 Jahren tun würde. Eine wunderbare Gelegenheit, hatte ihr doch Ihr Job, der kein Job sondern ein Leben war sehr gefehlt. Sie war nämlich eigentlich Schauspielerin. Immer auf Tour, immer unterwegs auch in verschiedenen Ländern. Hatte im Ausland gelebt. Und nun saß sie, getrennt von ihrem Mann mit der schwer kranken Tochter alleine in der Wohnung, das alles wohl sehr vermissend, doch wissend ihre jetzige Aufgabe war die Wichtigere, die Fundamentalere in Ihrem Leben. Das Leben der Tochter retten zu helfen, was wohl auch irgendwann gelang. Und so, mit dem Reinholen der Menschen aus aller Herren Länder fühlte sie sich vielleicht nicht mehr so angebunden. Brachten doch diese Menschen das Fremde, das andere nun zu ihr nach Hause. Öffnete ein Fenster zum Hinausschauen in die Welt und brachte gleichzeitig menschliche Wärme herein. So erzählte sie Anna zwischen bügeln, duschen und kochen ihre Geschichte. Und dennoch, sagte sie, zwei so „andere“ Menschen wie Takashi und Pedro hatte sie noch nie gleichzeitig in ihrer Wohnung gehabt. Und als Anna dazu setzte „und jetzt hast Du noch die depressive, nicht schlafende und nicht essende ältere Frau dazu“, da mussten sie beide lachen. Anna fühlte sich zu Hause - hier am Fuße von Montmartre zwischen Souvenirläden, Cabaret-Theater und Pornokino, zwischen japanischem Waschbär, amerikanischem Siebenschläfer und dem großherzigen schauspielenden Bügelwunder.


Catherine wohnte nicht nur, sie schlief auch im Wohnzimmer, dem Herz der Wohnung. Sie legte auf die Frühstücksteller kleine, blaue Servietten mit der Aufschrift „La vie est belle“. Und schon diese Kleinigkeit hatte Anna ein bisschen die Nervosität genommen die sie spürte, da für sie zunächst so vieles neu war in der großen Stadt - nach einem langen Leben in der Monotonie der Regelmäßigkeiten in einer Kleinstadt. Sie war vielleicht hierher gekommen um das Leben zu spüren. Das Leben, das zu Hause dumpf vor sich hin geblubbert war. Das Leben, das sie hier erwartete, nicht wissend warum. Das Leben, von dem sie glaubte, sie könnte es in einem Sprachkurs oder beim Laufen durch Straßen, durch Museen und beim Essen in guten Restaurants wieder spüren. Das Leben, nach dem sie sich sehnte ohne eigentlich zu wissen nach was sie sich genau sehnte.

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