Das war sie also: Die Lösung. In Form eines Stuhls. Eines Stuhls vor einem Fenster stehend, so, dass derjenige der darauf sitzen wollte zum Fenster hinaussehen konnte. So, dass er die Beine auf die vor dem Fenster stehende Couch legen konnte, fläzend, ins Grüne blickend, entspannt, von allem weg blickend, einfach nur in den Himmel, den Hof, in das noch spärliche Grün das jetzt im Frühjahr zu explodieren begann. Hinaus auf jeden Fall. Sich in Blick und in Gedanken entfernen könnend, ohne Druck, ohne Ziel, ohne Wunsch, ohne alles glücklich.
Das Problem war: Es war mein Stuhl. Es war der Stuhl der für mich stand, für das was ich wollte, das wohin ich wollte um zufrieden zu sein. Zufrieden mit den anderen Stühlen die nun im anderen Raum standen. In dem Raum in dem alles angefangen hatte. In dem Raum in dem nun meine Familie stand, in dem ich eigentlich mitten drin stehen sollte, in dem ich im wirklichen Leben auch stand. Mitten unter Ihnen. Meinen Kindern, meinem Mann, meinen Eltern, Freunden. Nicht alle hatten einen Stuhl bekommen, nur die Wichtigsten. Doch das spielte nun keine Rolle mehr. Es spielte keine Rolle mehr ob es 4, 7, 10 oder 100 Stühle waren die die Menschen, das Leben um meinen Stuhl herum symbolisieren sollten. Die wenigen die ich angeordnet hatte, die wichtigsten, so wie ich sie um mich herum fühlte, die wenigen sehr, sehr nahen um mich herum. Allen voran mein 4-jähriger Sohn, meine 8-jährige Tochter, mein Mann, meine Mutter, Vater, Schwester. Sie alle hatte ich in meinem Leben sehr nah, nah und weniger nah um mich versammelt. Sie waren mein Leben das ich mit diesen Stühlen anordnen sollte. Auf denen ich dann sitzend sie fühlen sollte, sie spüren sollte. Ich spürte ihre Liebe, Ihre Angst, Ihre Kälte, Ihren Hohn, ich spürt Ihren Herzschlag. Ich spürte das alles auf Ihnen sitzend, sie von unten in den Bauch aufnehmend und über die Zunge mit Worten ausspuckend. Jeder von Ihnen war so klar. Es war alles so menschlich. Sie alle waren wahnsinnig lebendig als ich auf Ihnen saß um sie zu fühlen. Und nun, als ich mit meinem eigenen Hintern auf mir selbst saß, auf dem Stuhl der mein ich war, da fühlte ich zwar, dass der Stuhl mir besser passte als die anderen, dass er maßgeschneidert für mich war, doch ansonsten fühlte ich: Nichts. Ich fühlte nur Leere. Und diese Leere fühlte sich nicht fremd an. Sie war mein Stuhl. Kurze Zeit dachte ich „das ist sicher normal, Du hast die anderen so sehr gespürt, ist doch klar, dass Du jetzt selbst leer bist. Du bist ein Rohr, ein Sprachrohr, durch das die anderen röhren dürfen, das jedoch selbst keine Botschaft hat. Du bist ein Rohr. Ein Rohr auf einem Stuhl? Hm? Schwachsinn.“
Als ich nun die Stühle so anordnen sollte, wie sie sich für mich besser anfühlen könnten, angenehmer in ihrer Position zu mir, rein aus dem Bauch heraus, hatte ich schon keine Lust mehr darüber nachzufühlen, schon denkend, ich werde nie eine Anordnung finden, die sich besser anfühlt, es gibt keine Anordnung die sich besser anfühlt. Ich schob meine kleine Familie zum Kreis, mich außerhalb von Ihnen, denkend und nicht fühlend, es wäre vielleicht gemütlicher, friedlicher für sie, wenn sie mich nicht im Kreis hätten. Ich schob mich neben sie, ich schob mich zu meinem Mann, ich schob mich weg von meinem Mann, ich schob hin und her, rauf und runter, ich schob und schob, noch mehr denkend „wie soll eine Leere etwas spüren“, fühlend, dass ich keinen Bock mehr hatte auf das Geschiebe, dass es sowieso keinen Sinn hatte egal wohin ich den Stuhl mit meiner Leere schieben würde bis, bis mein Coach sagte „Du kannst auch den Raum verlassen“. Da war es klar. Raus. Die Tür ging nicht auf, es war eine Schiebetür die ich in die falsche Richtung zu schieben versuchte. Leichte Panik kam in mir auf. Es war ein Zeichen, dass die Tür nicht aufgehen wollte, vielleicht konnte die Tür meinen Drang wieder zurückdrängen. Vielleicht konnte diese Tür mich zur Vernunft bringen. Vielleicht konnte diese Tür mir helfen mich in meinen Lebensraum mit den anderen Stühle zurückzuwerfen, mich wieder glücklich im Stuhl-Leben mit ihnen um den Konferenztisch sauber und ordentlich angeordnet so schön vor mich hin zu leben. Als einer von Ihnen auf vier Beinen mit sauberem weißgrauen, auch „offwhite“ genannten Polstern, üblicherweise sich maximal einen halben Meter vom Tisch entfernend. Dann nämlich, wenn ein Meeting-Teilnehmer ihn zurückzog zum sich darauf niederzulassen. Sie waren zufrieden als Meeting-Stühle die ein angenehmes Leben hatten, wurden sie doch wenig vollgepupst und wenn, dann nur zaghaft, denn wann wurde in Meetings schon herzhaft gepupst. Sie wurden nicht bekleckert, denn sie waren keine Esszimmer-Stühle in der Familien-Küche. Sie wurden meist am Stück für maximal 2 Stunden besessen, hatten oft sogar das ganze Wochenende frei. Und doch: Die Schiebetür konnte mich nicht daran hindern meinen einen vom Leben verwöhnten Meeting-Stuhl hinaus zu schieben. Die Schiebetür war nicht nur die, die sich nach hin und her probieren des Schiebens doch öffnete, sie war auch die, die ich nun ganz schnell wieder hinter mir schloss. Hinter mir und meinem ebenfalls wenig voll gepupsten, verwöhnten offwhite-farbigen Meeting-Stuhl. Die Tür hinter der die anderen Stühle nun so stehen konnten wie sie wollten, konnten von mir aus auch Polka tanzen an ihrem freien Wochenende, wenn sie nur hinter der Tür blieben. Nur mein eigener maßgeschneiderter, mir perfekt passender Meeting-Stuhl, der war raus. Und so schob ich ihn noch weiter weg von der Tür hinter der die anderen vielleicht tanzten, ihr den Rücken zukehrend in Richtung Fenster, auf die Weite zu. Ausgerichtet zum Himmel, den Bäumen, zur Freiheit. Und ich setzte mich auf diesen Stuhl. Und saß, die Beine hoch gelegt auf die Warte-Couch vor dem Fenster. Endlich entspannt. Endlich glücklich. Endlich mich mindestens genauso ganz fühlend, wie ich mich vorher leer gefühlt hatte. Nicht mehr aufstehen wollend, strahlend, noch nicht, begreifen wollend was geschehen war: Die anderen, die hinter der Tür die ich selbst zugeschoben hatte, das war doch meine Familie, meine Lieben, eigentlich mein Glück.
Es waren die, die ich im bisherigen Leben als „mein Ein und Alles“ bezeichnen würde - ohne zu zögern, ohne darüber groß nachzudenken. Niemals zugelassen hatte darüber nachzudenken, dass vielleicht mein eigenes „Ein und Alles“, mein „Selbst“ das nicht so sah. Dass vielleicht mein eigenes „Ein und Alles“ am liebsten einfach mal „All-Ein ohne die Alle“ wäre. Und zwar nicht nur mal an einem Vormittag an dem die Kinder in Schule und Kindergarten waren.
Jetzt war es raus. Und zwar nicht nur aus der Schiebetür des Konferenzraums mit den Offwhite-Stühlen. Es war aus mir heraus. Eine leise Ahnung die ich zwar schon gehabt hatte, die in mir leise waberte in Form von ständigem genervt sein wenn meine Kinder etwas von mir wollten, sei es mit mir spielen, mit mir kuscheln, mit mir essen wollen oder einfach nur lieb sein wollen. Eben einfach mit mir sein wollen. Wenn mein Mann nach Hause kam im großen und ganzen meist mit dem gleichen Anliegen, mit mir sein wollend. Sogar wenn Freunde uns einluden. Grundsätzlich immer wenn ich Dinge tun sollte die für so manche Mutter, Ehefrau, Freundin die Essenz Ihrer Freude war. Das Stühle-Rücken hatte nun meine Ahnung aufgespürt, die ich bisher immer von einer Ecke in die andere Ecke meiner tausenden von inneren Ecken gedrückt hatte, sich gut versteckt hatte vor meinem Wissen darüber. Es hatte alle meine inneren Versteck-Ecken rund werden lassen, hatte mein Inneres aufgeblasen wie eine Hüpfburg die es nun immer wieder hinaus katapultierte und ihm keine Chance mehr gab sich in irgendeine Ecke zu drücken. Das Wissen darüber, dass ich nicht leer war, nicht depressiv war, nicht überfordert, nicht zu verwöhnt und nicht einfach nur gelangweilt war von meinem Leben. Nein, die einzige hüpfende Figur auf dieser Hüpfburg meines aufgepusteten Selbst war das Wissen darüber, dass ich sie einfach alle, wirklich alle nicht um mich haben wollte. Dass ich einfach nur mit mir sein wollte, die Türe zu machen wollte. Und zwar nicht nur für einen Nachmittag, ein Wochenende oder eine Woche. Ich wollte einfach meine Ruhe. Vielleicht sogar für lange.
Schock. Was war ich für eine Mutter die sich wünscht Ruhe vor ihren eigenen Kindern zu haben? Vor ihrem Mann? Ok, das gab’s vielleicht öfters und ja, natürlich kennt jede Mutter Situationen in denen sie sich im Bezug auf ihre Kinder Dinge wünscht, die sie niemals aussprechen würde und schon gar nicht tun würde. Doch sich wirklich wünschen vor Ihnen allen eine längere Zeit „Ruhe“ zu haben? Ruhe vorm kleinen Knutscher der morgens wie eine Knutschwurst ins Bett kommt und schwärmt „Mama Du bist so schön warm, kuscheln wir?“. Ruhe vor dem zappelnden, aber immer charmanter werdenden Schulkind-Mädchen das von Tag zu Tag erwachsener, mädchenhafter und selbständiger wurde? Und vom Frühstück vorbereitenden, einkaufenden, hart arbeitenden und dennoch immer gut gelaunten Mann und Vater dieser beiden Sonnenschein-Kinder? Nicht zuletzt von einer Arbeit die ich mir selbst einteilen konnte, sie in einem schicken Büro mit privilegiertem Skyline-Blick den oberen Stockwerken dieser modernen Hochhäuser des Geldes tun konnte. Oder auch aus meinem Heim-Büro das in der Stadt lag, doch schon im Grünen - wenn ich den Jogginganzug bei der Arbeit anbehalten wollte. Wie ich eben wollte. Doch wie wollte ich?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen