Montag, 22. Juni 2015

Der Irre gegenüber

Wir öffneten das Törchen. Das Törchen zum Hof des Kindergartens das die Kinder davon abhalten sollte direkt auf die Straße zu rennen. Mein Sohn und ich hatten das Ritual dass er das Törchen aufstieß und vor allem, dass er als erster von uns beiden mit dem Fahrrad am Kindergarten war. Diese Kinder-Regel galt und musste eingehalten werden, sonst war ein Teil seines kindlichen Morgens gelaufen, konnte plötzlich in einen unerfreulichen Wutmorgen gewandelt werden. Das wollte weder er und noch viel weniger ich und so hielten wir unsere Regel ein. Des morgendlichen Friedens willen. 

Es war kurz vor 9 Uhr, Stoßzeit der Kindergarten-Ankunftszeit. Nach 9 Uhr wurde der automatische Öffnungsmechanismus an der Eingangstür ausgeschaltet und man kam nur noch mit einem strafenden Blick der Erzieherin, die nun den Öffner von Hand betätigen musste, hinein. Wenn man Pech hatte, kam man gar nicht mehr hinein. So war es also in der kurz-vor-neun-Stoßzeit wie jetzt ganz normal, dass man das Törchen gleich für die nächsten eintreffenden Ankömmlinge offen ließ. Das taten wir auch, für ein Mädchen aus der Gruppe meines Sohnes das mit ihrer Mutter und dem neuen Familienmitglied an der Leine eingetrudelt kam. Sich bedankend, grüßend, auf den jungen Hund einredend der ungestüm und lebendig hin- und her und hoch sprang, sich freute, tollte. „Hallo, na, wie geht es Dir?“ und ich das übliche „Danke gut, und Dir?“ entgegnete, auf das sie sofort einstieg, weiter parallel auf Hund und Tochter einredend was sie zu tun hätten, mit einem „Ja, ich nehme Dich mit rein“ zum Hund und in meine Richtung „ich muss sie mit rein nehmen, weil der Irre hier gegenüber mich bedroht hat, stell Dir vor, er will meinen Hund vergiften, wenn ich ihn weiter bellend vor dem Kindergarten anleinen würde. Der spinnt doch, der Irre da drüben“ mit dem Finger auf das gegenüberliegende Haus zeigend. Wir waren noch nicht an der Eingangstür angelangt,  sie wurde immer lauter und lauter, es war ganz klar, dass sie ihren Unmut bewusst bis nach drüben hörbar machen wollte, weiter Schimpfwörter über den Nachbarn verwendend. Ein Nachbar den ich noch nie gesehen hatte in über fünf Jahren Ein- und Ausgehens im Kindergarten. Ihre Kraftausdrücke, ihre Lautstärke die beabsichtigt war, die mich als Komplizin fühlen ließ die ich nicht sein wollte, beklemmte mich innerlich, doch äußerlich blieb ich ruhig. Ich versuchte lediglich, uns alle gemeinsam möglichst schnell durch die Eingangstür zu schleusen. Ich wollte nicht Zeuge und schon gar nicht Teilnehmer eines offenbar bereits hochgekochten Streits werden und versuchte, nicht auf ihren Wutausbruch einzugehen. Ich atmete innerlich auf als sich die schwere Kindergartentür hinter uns schloss und somit auch die stimmlichen Schallwellen keine Chance mehr hatten bis zum Nachbarn vorzudringen. Geschafft. Erleichterung.

Im Schutze des Kindergarten-Inneren versuchte ich weiter mich ausschließlich mit meinem Sohn zu beschäftigen, ihm beim Schuhe ausziehen, Rucksack aufhängen, Verabschieden in seine Gruppe zu helfen, darin als verständnisvolle Mutter entspannt zu wirken. In der Anwesenheit vieler anderer Eltern unterzutauchen und wieder auf mein emotional ruhigeres Level herunter zu pendeln. Als einer der eintrudelnden Väter mit seinem Sohn in Richtung einer der hinteren Gruppen an uns vorbeiging und die Hunde-Mutter zu einem erneuten Ausbruch veranlasste „Dieses Arschloch da hat mir jetzt gesagt, ich dürfte meinen Hund nicht mit in den Kindergarten nehmen, der müsste draußen bleiben. Aber das geht ja nicht, weil der Irre von drüben meinen Hund dann vergiftet. Stellt Euch vor, dieser Idiot da vorne, der Spießer.“ jetzt zeigte sie in die Richtung des vorhin passierenten Vaters und meine eben erlangte Erleichterung durch die Kindergartentür war wieder dahin. Doch nun waren noch andere Mütter auf der Kinder-Abgebe-Wartebank in Position. Sie konzentrierte sich also mit ihren Schimpftiraden nicht mehr nur auf mich. Ich musste nichts erwidern, hoffte, dass ich in der Menge der Ansprechpartner wegtauchen könnte. So war es auch. Es half ungemein, dass wir alle ruhig blieben, gemeinsam ein wenig begossen wirkend, wie die großen Geschwister ihres noch kleinen, immer noch hüpfenden und wedelnden Pudels dort saßen, als eine Mutter aus den hinteren Gruppen voller Elan und dennoch schlendernd und in flötend unverfänglichem Ton die Pudel-Mutter ansprach: „Na meine Liebe, haste Stress? Was machste denn heute so?“. Alle Mithörer atmeten tief ein, dann tief wieder aus. Ruhe. Wieder Einatmen. Da antwortete diese: „Ja, ich muss gleich zum Aldi, denn dort gibt es heute Kinderhosen und Westen. Die sind so günstig und immer gleich ausverkauft. Soll ich Dir was mitbringen?“. Sie lächelte entspannt und sah auch mich dabei an und fragte „Kann ich Dir auch welche mitbringen?“. Vor fassungsloser Erleichterung über den genialen Streich der flötenden Mutter wollte war ich versucht, eine Großbestellung an Kinderhosen und Westen für 2,99 Euro das Stück aufzugeben - Farben völlig egal. Doch ich gab dem Impuls nicht nach und antworte „Das ist sehr lieb von Dir. Ich glaube wir brauchen nichts.“ und der Tag war gerettet. 


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