Dienstag, 23. Juni 2015

Sam

Als ich heute morgen wach wurde, erinnerte ich mich an Sam: Sam war ein Junge in Toulouse, nein, ein Mann, vielleicht so alt wie ich, damals Anfang zwanzig. Seine Mutter war Spanierin, doch sein starker Akzent war der des französischen Südens. Ich glaube auch Schreiben, die Schule war nicht sein Liebstes gewesen. Sam tanzte. Auf der Straße. Er war einer der „Brakeur“. Er war in Toulouse der, der am schnellsten und die meisten Drehungen auf seinem Kopf hinbekam. Er hatte eine unglaublich gute Technik, einen starken Nacken. Sam passte nicht rein in die Welt der Brakedancer aus dem „banlieue“, deren Nachwuchs ich im Centre de Développement Chorégraphique betreute. Die Jungs, die oftmals auf der Straße lebten, vielleicht auch ab und zu eine „Bruch“ machten. Sam war viel zu weich. Er übernachtete manchmal bei mir. Schon als ich ihn kennenlernte sah ich seine selbst gestochenen Tatoos und vor allem seine Narben an den Handgelenken. Er sagte, es sei schon länger her, er würde es nicht mehr versuchen. Er lächelte immer. Wenn ich frei hatte trainierte er mit mir im CDC wenn die anderen schon längst weg waren, oder wenn sie noch nicht da waren. Er sagte immer „tu sais travailler, toi“ wenn ich verzweifelte am „Brake“, dem Tanzen auf den Händen, dem Rücken, den Schultern, dem männlichen Tanzen das eine Mischung aus Bodenturnen und Ringen oder Judo nur ohne Gegner ist. Sam war keiner der viel sprach. Sam lächelte. Und wenn ihm die anderen zu brutal waren mit ihren Sprüchen, dann ging er. Ich mochte ihn sehr, doch ich fühlte mich hilflos, ich fühlte Mitleid mit ihm. Ohne zu wissen wofür. Vielleicht weil er immer traurig wirkte obwohl er immer lächelte. 

Als ich zurück musste nach Worms, mein Studium dort beenden, rief Sam mich eines Tages an. Er würde morgen vorbeikommen, in Worms, wenn ich wollte. Ich würde ihm fehlen. Und so kam er, mit dem Zug von Toulouse nach Worms. Ich weiß nicht, wie unglaublich viele Stunden er im Zug verbracht hatte. Er blieb ein paar Tage. Ich weiß nicht mehr, was wir gemacht haben. Wir waren nicht einmal im Tanzstudio meiner Freundin, oder doch, ich kann mich daran nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass er bald wieder fuhr, obwohl er nichts vorhatte in Toulouse, doch er spürte, dass es hier kalt war. Dass es auch mir hier kalt war, doch dass wir uns beide die Kälte nicht abnehmen konnten. Dass wir beide alleine mit der Kälte an unseren Orten zurecht kommen müssen würden. Nachts weinte er bitterlich. Als er in den Zug stieg, nach einigen Tagen im kalten, grauen, im Herbst immer nebligen Worms, eigentlich genau wie es in Toulouse im Winter war, lächelte er. Er stand in der Tür des Zuges und ich sah die Hoffnungslosigkeit und die Angst in seinem Blick als er sagte ich solle auf mich aufpassen. Er versuchte mich weiter anzulächeln als die Tür sich schloss.

Heute morgen beim Aufwachen musste ich an Sam denken, den ich vergessen hatte wollen, den Ausdruck in seinen Augen der mir Angst gemacht hatte weil ich seine Narben gesehen hatte. Angst, dass er es nicht schaffen würde. Angst, weil ich ihm nicht helfen konnte. 

Ich hatte Sam vergessen, verdrängt. Wenn ich an ihn denke, habe ich noch heute ein schlechtes, ein hartes Gefühl über mich selbst. Ich wollte ihn vergessen. Ich wollte nicht mehr an ihn, an seine Qualen denken. Ich dachte heute morgen vielleicht geht es manchen Menschen aus meiner Vergangenheit mit mir auch so. Sie sind einfach froh mich vergessen zu können, mich verdängen zu können, nicht mehr an mich denken zu müssen, denn es ist nur noch ein schlechtes Gewissen bei den Gedanken an einen Menschen übrig geblieben, den man vielleicht geliebt hat, dessen Qualen man aufgedeckt hat, doch dem man nicht helfen konnte. Sich kalt und gefühllos fühlend, sich schämend und daher am besten nicht mehr an ihn denken wollend weil man etwas ausgelöst hat, das nun nur noch Mitleid bei einem selbst auslöst. Wissend der andere ist ein lieber, ein guter Mensch, doch am liebsten diesen Menschen nicht mehr in den eigenen Gedanken haben wollend. Verdrängend. Vielleicht einfach nur aus Selbstschutz.

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