Sonntag, 19. Juli 2015

Der Fisch

Sie saß auf der Kommode in der Küche mit Blick Richtung Laden. Die Tür war halb geöffnet. Mama hatte gleich Zeit.

Sie wollte ihrer Mutter erzählen, wie’s beim Psychiater gewesen war, der eigentlich ein Neurologe war. Sie hatten auf die schnelle keinen Psychiater gefunden in dem kleinen Ort, und außerdem - „Neurologe“ klang besser. Es könnten ja einfach nur die Nerven sein, hatte Mama gesagt. „Mia genga doch ned zum Psychiata, wos sogn denn da die Leid.“ Sie hatte sich geweigert in die Schule zu gehen, sich auf die Kommode gesetzt und ihrer Mutter mitgeteilt, dass sie Hilfe wolle, und so lange nicht mehr zur Schule gehe, bis sie welche bekomme. Am Ende hatte sie sich gegen „die Leid“ durchgesetzt, zusammen mit Papa, der alles gut fand, was mit „Psych“ anfing, weil er in seiner Jugend einen tollen Farbpsychologie-Vortrag gehört hatte.

Ihr Vater hatte sie heute morgen also zum einzigen Neurologen der Stadt gefahren. Dieser hatte ihr eine Kindergeschichte erzählt, die ihr so doof vorkam, dass sie sie danach nicht mehr nacherzählen konnte. Anschließend hatte er ihr ein Netz über Kopf gespannt und viele Kabel daran befestigt. Er hatte mit dem Netz gemessen, wie sich ihr Fisch im Kopf, dem das Wasser zum schwimmen wohl schon seit langem ausgegangen war, bewegte. Seine Messungen hatten ergeben, dass der Fisch lebte und nichts Außergewöhnliches tat in seinem Leben, außer sich keine doofen Kindergeschichten merken zu können - was für einen Fisch ja auch nicht unbedingt notwendig war. Für eine Abiturientin allerdings schon. Also hatte der Neurologe, der eigentlich Psychiater sein sollte, ihr ein Medikament verschrieben. Die benachbarte Tante, die eine Apotheke am anderen Ende der Stadt hatte, sollte schon am Mittag das Medikament mit zu ihr nach Hause bringen, nicht ohne am Telefon bemerkt zu haben, dass man damit auch einen zappelnden Elefanten ruhig stellen könnte. 

Als Papa sie im Wartezimmer des Psychiaters in Empfang genommen und gefragt hatte „und Spotzl?“ wusste sie nicht so recht was sie erzählen sollte, außer, dass sie sich keine Kindergeschichten merken konnte, dass der Fisch im Netz normal schwimmen konnte und dass sie ein Medikament verschrieben bekommen hatte. „Aha“ erwiderte ihr Vater und als er auf dem Rückweg im roten R4 die Revolverschaltung in den dritten Gang schoss, meinte er: „Und woher kummt des?“, worauf sie nur mit den Schultern zucken konnte, hoffend, das Medikament würde die Frage nach dem „woher“ genauso lahm legen wie Elefant, Fisch und Kindergeschichte.

Sie ging hoch in die Wohnung, an den Ort, der am weitesten von den Eindringlingen entfernt lag, von „die Leid“, den Kunden, die im Laden einkauften. Ihre große Schwester saß in der Wohnküche, wie fast immer, auf der Eckbank, am massiven Eichenholz-Tisch, unter dem Stich vom „Markt zu München“, vertieft in ihre Hausaufgaben. 
„Hilde … ich …“ 
Doch Hilde blickte nicht auf, sie blickte niemals auf, bemerkte anscheinend nicht einmal, dass jemand den Raum betreten hatte. Sie war neidisch auf den Hirn-Fisch der Schwester, der das ganze Meer für seine Schwimmereien zur Verfügung zu haben schien, der kein Netz brauchte, und einfach nur schwamm wie er schwimmen wollte.

Der Ozean spülte sie die steinerne Treppe hinunter. Sie übersprang die letzten vier Stufen, um zwischen den sich stapelnden Getränkekisten im Flur Richtung Laden zu gehen - die Tür zur Oma stand einen Spalt offen und sie beschloss, Omas Wohnzimmer zu betreten. Oma saß auf ihrem grünen Diwan am Tisch mit den zum Boden hin vergoldeten Beinen und blickte vornüber gebeugt durch ihre Brille. Das Geld vor ihr war in Häufchen gestapelt, daneben lag ein Zettel, auf dem Oma schon einige Zahlen notiert hatte.„Zworafirzg, dreiavirzg, vieravirzg, naa, des stimmt ned, des stimmt wieda ned.“ Oma schaute zu ihr auf. „Muckal, mogst wos essen?“
„Du, Oma, wie geht’s dann? Kann i dir was erzähln?“ 
Oma schaute über den Rand ihrer Brille in die Ferne. „Do hod’s ma wieda ois durchananda brocht, dei Muada, des is eh wieda vui zwenig.“ Auch der Fisch der Oma schwamm ohne Netz in seinem Ozean umher, zwar schon etwas verwirrt, doch schien er in der Weite des Wassers nicht an Grenzen zu stoßen. 

Und so saß sie nun wieder in der Küche vor dem Laden. War wieder da angekommen, wo sie hergekommen war. Auf der Kommode, mit den runden, abgeschabten Ecken mit ihren Schubladen, deren Knäufe so blau waren wie die Wellen des Ozeans, den es für ihren Fisch nicht mehr gab. 

Sie saß auf der Kommode, in der Küche, die eigentlich nur die Kulisse hinter der Bühne, dem Laden, war, sie wartete, auf den türkisfarbenen Linoleumboden starrend, darauf, dass das Schauspiel „Drei Äpfel und vier Birnen für Frau Hofmann“, das Mama gerade mit der Kundin draußen aufführte, zum Ende kam. Denn gleich würde Frau Hofmann dankend verabschiedet, rausgedankt, mit Applaus von der Bühne gelobt. Und so hatte Mama sicher, wie versprochen, nach ihrem Auftritt Zeit, wenn sie zu ihr hinter die Kulissen kam.

Die Tür hinter Frau Hofmann war ins Schloss gefallen, und Mama hatte sich nun endlich umgedreht, war in ihrem üblichen Stechschritt nach hinten gekommen. Sie hielt am Waschbecken, in dem die großen Wurstmesser lagen, inne und nahm den Lappen, um sie sauber zu machen. „Und wos hod a gsogt da Dokta?“

Als sie den Fisch aus dem Netz holen wollte, erklären wollte, dass er kein Wasser mehr spürte, ertönte die Klingel der Ladentür. Ihre Mutter straffte sich, trat in den Laden und führte mit wundervoll strahlender Miene das nächste Stück auf. „Griasgott Frau Altmeier, des is guad dass sie kema, I hob extra für sie den frischen Hering heid!“

Wie festgetackert saß sie auf der Kommode. Sie wusste um ihre Statistenrolle, doch wusste sie auch, dass es Zeit für einen richtigen Auftritt war. Mama hatte sie wieder als Zweitbesetzung hinter den Kulissen warten lassen. Sie schwang sich von der Kommode, öffnete die Türe zum Laden und rief betont fröhlich „Grüß Gott Frau Altmeier.“
„Griasdi, wie wie geht’s dann?“ 
Endlich, endlich war die Frage gefallen.
„Danke, dass sie fragen! Ned so guad ehrlich gsagt.“ 
Die Mutter schob die Sachen auf der Theke nervös hin und her. 
„Mogst a Banane, Schatzl?“
Doch es war zu spät. Frau Altmeier hatte bemerkt, dass das Stück eine Wendung bekam. 
„Ja wos feit da denn?“
„Wissens, ich war grad beim Psychiater, und er hat mir ein Medikament verschrieben, weil das besser ist wie reden. Und außerdem spart das Zeit, weil Reden kost Zeit. Und zuhörn kost a Zeit. Und Zeit habn mia ja nur für unsere Kunden.“ 
Ihr Fisch war aus dem Netz. Mama versuchte ihn mit dem Kescher einzufangen.
„Die Frau Altmeier hod koa Zeid heit, woast, sie kriagt an Bsuch, die wui des sicha gar ned wissen“. Doch Frau Altmeier zappelte schon längst am Haken. 
„Ich werd’s wohl nehma des Medikament für Verrückte was er mir aufgschriebn hot. Mia wollen ja nicht das des gleiche wie mit dem Opa passiert“.
Frau Altmeiers Mund glich dem des Fisches an Land, offen und rund.
„Mit dem Abitur, des könnt knapp werden, hat er gemeint, aber besser wär’s schon, wenn ich’s nehmen würd, wegen die Kunden, weil die Gschicht mit dem Opa kennen’s ja bestimmt, oder Frau Altmeier?“
Ihre Mutter war blass geworden.
„Naaa“, alle drehten sich zur Küchentür hin, in der die Oma stand 
„die Frau Altmeier, die hod an Opa nimma kennt.“ 
Das aufgeführte Stück ging in die spannende Phase. Ihre Mutter raste zur Oma und hakte sich bei ihr ein. „Kumm Mutti, I bring da dein Kaffee rüber“, und schob die Oma in Richtung Küche.
Zeit für das Solo.
„Ja, wissen’s Frau Altmeier, wenn dem Opa damals nicht gut war und Kundinnen zu lange gebraucht haben für ihren Einkauf …“ Sie stellte sich hinter die Theke und tippte die Beträge in die Kasse. „Des macht bitte dreiavierzg fünfazwanzg, Frau Altmeier“.
Frau Altmeier holte die Geldbörse raus und legte einen 50er auf die Theke.
Die Tochter öffnete die Kasse, steckte den Schein rein und sammelte das Wechselgeld zusammen. „Sechs fünfasibzig für sie. Dankesehr Frau Altmeier“, sagte sie und fing dabei an, leichte Zuckungen mit der Hand zu machen. „Wissens, der Opa, das war schlimm damals für die Oma, die Kundin, die hat sowieso nie viel eingekauft, um die war’s ned so schad.“
Ihre Mutter stürzte zurück in den Laden, im Blick die Gewissheit, dass sie dabei war, das Ende des Stückes auf ihrer eigenen Bühne zu verpassen.
„Ich mach Ihnen die Tür auf Frau Altmeier. Beehren Sie uns bald wieder, gell? Aber vielleicht warten’s lieber, bis des Medikament bei mir wirkt. So zwei, drei Wochen sagt man braucht’s schon. Und grüßen’s Ihrn Mann, gell.“
Von draußen kam gerade die Huber Gerdi in den Laden. Frau Altmeier blieb sofort stehen. „Gerti host des scho ghört …“
„So, dreiavierzg fünfazwanzg sind in der Kasse Mama, und jetzt haben wir Zeit.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen